Mittlerweile war die Bombe geplatzt und jede Hoffnung auf eine andere Erklärung in tausend traurige Teile zersprungen. Die letzten 12 Monate hatten meine Mutter und ich – jeder für sich und wir uns gegenseitig – mit unermüdlichem Wegschauen, Wegducken und Wegerklären eine halbwegs heile Welt am Leben erhalten. Eine Welt, in der jede Diagnose plausibler erschien als Demenz. Vielleicht hatte Papa einfach nur schlecht geschlafen und war deswegen etwas zerstreut? Vielleicht hatte er uns einfach nur akustisch falsch verstanden, weswegen seine Antwort so gar nicht zur Frage passen wollte? Außerdem war Papa doch schon immer ein Quatschkopf, das nimmt im Alter bestimmt noch zu.
Ein Urlaub meiner Eltern in Bayern hat dann aber genau die Klarheit gebracht, mit der keiner von uns aufs Leben blicken wollte. Papa war aus der Ferienwohnung weggelaufen, Vermieter, Nachbarn und die Polizei starteten eine Suchaktion und Papa wurde zum Glück nur eine Stunde später verwirrt an einer Haltestelle im niederbayerischen Nirgendwo gefunden. Ohne Widerworte stieg er auf einen Traktor und ließ sich zu meiner aufgelösten Mama zurückchauffieren.
Wie schön war doch im Nachhinein unsere in süßem Selbstbetrug eingenebelte Welt. Wie schön waren die einigermaßen normalen Gespräche, die man mit Papa bis zuletzt noch führen konnte. Jetzt hatte Papa offiziell Demenz. Und ich war mit Nele auf dem Weg zum Berliner Plötzensee.
Das Telefon klingelt, meine Mutter ruft an.
„Markus, bitte hilf mir, Papa dreht hier gerade durch. Bitte komm!“
Ich versuche Nele mit komischen Handzeichen zu erklären, dass wir stehen bleiben müssen.
„Mama, ich bin hier mit Nele und wir sind grad am Plötzensee angekommen. Ich kann jetzt nicht einfach so kommen.“
„Markus, du MUSST kommen. Papa rennt vor mir weg, es sind 30 Grad, du weißt doch, dass er herzkrank ist! Der kippt mir hier gleich um!“
„Und warum rennt er vor dir weg?“
„Weil er mich nicht erkennt und denkt, dass ihn eine wildfremde Frau verfolgt. Bitte rede du mit ihm, auf mich hört er nicht.“
Im Hintergrund höre ich, wie meine Mutter auf meinen Papa einredet, doch wenigstens das Handy in die Hand zu nehmen und mit seinem Sohn zu sprechen.
„Hallo, Markus?“. Papa klingt außer Atem und völlig verzweifelt. „Markus, hier passiert grad etwas Unerhörtes, die Frau neben mir behauptet, Marina zu sein“
Willkommen in der neuen Realität, Markus.
„Papa, das ist wirklich Mama neben dir.“ Pause. Schnaufen am anderen Ende der Leitung. „Das hätte ich nicht von dir gedacht, Markus, dass du mich dermaßen hintergehst.“
„Papa, ich hintergehe dich nicht. Das ist wirklich Mama, deine Marina!“
„Aber Markus, wenn das meine Frau wäre, dann würde ich sie doch erkennen, oder nicht? Was erzählst du denn da?“
Erst mit der Zeit sollte ich lernen, dass man mit Demenzerkrankten nicht diskutieren kann. Jedes Nein erhöht ihren inneren Druck, verwirrt nur noch weiter und kann im schlimmsten Fall aggressive Reaktionen auslösen. Wer mit Demenzerkrankten auf gedeihliche Weise zusammenleben möchte, muss lernen zu schauspielern. Muss lernen zu improvisieren. Natürlich gibt es Situationen, wo man eingreifen muss. Wenn Papa sich mit Spüli die Zähne putzen will, kann man nicht einfach so zuschauen. Aber dann gibt es noch all diese Grauzonen, wo man sich gut überlegen muss, was einem sein eigenes Nein, Papa! wert ist. Sollte man Papa davon zurückhalten, in die indische Vase im Hausflur zu pullern, oder ihn einfach machen lassen? Sollte man ihn aufhalten, wenn er sich im Restaurant zu wildfremden Menschen an den Tisch setzen will? Was ist schlimmer: die peinliche Situation in der Öffentlichkeit oder das Risiko, dass Papa einen für die nächste Stunde für seinen größten Widersacher hält und auch genauso behandelt?
Und noch ein Gedanke, der mir erst später in den Sinn kam: Im Rahmen seiner eigenen Welt und Wahrnehmung war seine Antwort schlicht und einfach perfekt. Sie hat mich völlig entwaffnet und argumentativ in die Ecke gedrängt. Natürlich würde er seine Frau erkennen, wenn es seine Frau wäre! Was zum Teufel soll man darauf antworten? Ja, Papa war dement, aber sein Denken deswegen noch lange nicht per se unlogisch.
„Papa, du hast Recht. Ich habe mich geirrt, das kann dann wirklich nicht Mama sein. Aber bitte geh mit ihr mit, sie wird dich zu Marina bringen.“
Ich bin unter Druck eigentlich kein Überperformer, aber in der Situation fiel mir wohl genau die richtige Antwort ein, denn Papa antwortete:
„Ok, das mache ich. Aber kannst du bitte kommen, Marki?“
Wir sitzen im Auto, Nele fährt, ich schaue aus dem Fenster, ohne irgendetwas zu sehen. Ein Popsong läuft im Radio und mir ein lautloser Schwall an Tränen aus den Augen. Ich bin wie betäubt und verstehe trotzdem, wie mein, wie unser Leben ab jetzt aussehen wird. Am meisten tut es mir für meine Mutter leid, sie wohnt mit Papa zusammen, hat für dieses Leben keine Pausetaste. Ich aber bleibe Tourist in der neuen Realität meiner Eltern. Mein Leben geht weiter: Arbeit, Freundin, Freunde treffen. Nur wenn ich meine Eltern besuche, bricht mein Kartenhaus jedes Mal zusammen.
Das Telefon klingelt, „Mama“ steht auf dem Display. Ich sollte die nächsten 24 Monate lernen, das Klingeln meines Handys zu fürchten. Welch eine Erleichterung, wenn dort ein anderer Name als „Mama“ aufleuchtet. Und welch innere Panik, wenn eben dort „Mama“ aufleuchtet. Wenn Mama anruft, wird es mir danach wehtun, wird mein klappriges Kartenhaus krachend einstürzen. Weil Papa wieder irgendetwas „angestellt“ hat.
„Markus, bitte beeil dich, Papa weigert sich, mit mir nach oben zu gehen. Er will erst in die Wohnung zurück, wenn du da bist. Wir warten vor unserem Haus auf euch.“
Ich wünsche mir, dass wir nie ankommen. Wie schön doch auf einmal so ein Stau auf der Stadtautobahn sein kann. Herrlich, wie uns die Ampelschaltung beim Weiterfahren sabotiert. Bitte keine grüne Welle, sonst sieht mein Herz rot.
Meine Eltern stehen am Straßenrand, Papa schaut verzweifelt in alle Richtungen. Er erkennt mich sofort und rennt auf mich zu.
„Ist das schön, dich zu sehen. Danke, Marki!“ – Tränen schießen aus seinen Augen, meine halten überraschenderweise dicht. Jetzt bin ich gefordert. Meine Mutter steht wie ein Häufchen Elend neben ihrem Mann. Ein Blick genügt, um zu verstehen, was die letzten Stunden in ihr vorgegangen sein muss. Aber ich kann den Schmerz nur erahnen, ihr Schmerz ist nicht meiner. Ich bin hier nur trauriger Tourist.
„Hallo Papa, ich freue mich auch, dich zu sehen. Wollen wir dann hochgehen?“
„Ja, unbedingt. Und oben trinken wir dann auf dem Balkon einen Sekt.“
Ich kann mir keinen schöneren Anlass vorstellen, um genau jetzt die Korken knallen zu lassen. Die sonderbare Schaumwein-Squad in spe stapft Richtung Hauseingang.
„Aber diese Frau kommt nicht mit hoch!“ Ich gucke erst Papa erschrocken an und dann meine Mutter. Bis heute muss ich immer wieder an diese Situation zurückdenken. Wie muss es sich für eine Frau anfühlen, von ihrem eigenen Mann als Eindringling in sein Leben wahrgenommen zu werden? Du bist selber verzweifelt, du bist nervlich am Ende, du willst nur das Beste für deinen Partner – und du wirst zurückgewiesen, geleugnet und beleidigt. Und eine Sache darfst du dir dann auf keinen Fall erlauben: wütend zu werden. Du hast nicht das Recht darauf, dein Mann ist doch krank! Traurig ist vielleicht noch OK, aber wütend ist verboten.
„So geht das schon die ganze Zeit, Markus.“
„Papa, das ist aber dei…“ Ich falle mir selber ins Wort. „Papa, die Frau kommt jetzt mal mit hoch, sie steht ja mit Marina in Kontakt und wird dann gehen, wenn Marina da ist. OK?“ Papa nickt und wir laufen die Treppen hoch.
Oben schnappt sich Nele meine Mutter und ich versuche mit Papa zu reden. Papa redet ohne Punkt und Komma von der frechen Frau, die ihm seit Stunden nicht von der Seite weichen will. Was will die denn von mir? Und er wartet so sehnsüchtig auf seine Frau. Warten auf jemanden, der schon da ist, aber den man nicht erkennen kann. Warten auf Personen, die schon lange tot sind (wie Papas eigene Mutter), aber jeden Moment zurückkommen müssen. Wenn ein Wort Demenz gut beschreiben kann, dann ist es aus meiner Sicht Warten. Verzweifeltes, unglückliches Warten. Demenzerkrankte sind wie verirrte Wanderer, die ein konkretes Ziel haben und dort niemals ankommen werden.
Papa wird ungeduldig. Auf seinen Sekt. Wir setzen uns auf den Balkon und langsam freundet sich mein Vater mit der Präsenz dieser fremden Person an. Ich habe mal gelesen, dass man mit Demenz keinen Alkohol trinken sollte. Und ich frage mich zynisch: Was soll ein Glas Sekt noch in einem Gehirn zerstören, das einen nicht mal mehr die eigene Frau erkennen lässt?
Papa schmeckt der Sekt, Papa lacht. Wir lachen mit. Anfangs noch verhalten, aber langsam dämmert uns, dass Papa seinen Widerstandsmodus aufgibt. Ob es am Alkohol liegt, keine Ahnung. Ich hätte mit Papa auch einen Joint geraucht, damit er endlich seine eigene Frau wiedererkennt und dieser Albtraum für einen Moment mal aufhört.
Und dann passiert das Unglaubliche. Papa schaut meine Mama an und mit Tränen in den Augen brüllt er: „Da bist du ja, Marinchen! Ist das schön. Endlich bist du da!“
Ja, Demenz ist ein bombensicherer Garant für Trauer und Tragik. Aber Demenz bringt auch eine herrliche Charaktereigenschaft zum Vorschein: reine, aufrichtige und grenzenlose Dankbarkeit – für jede noch so kleine Geste. Und diesen glücklichen, schwerverliebten Blick, mit dem mein Vater jetzt meine Mutter beschenkte, könnte nicht der beste Schauspieler der Welt jemals nachstellen.
Mein Papa weint, meine Mama weint. Und das Wunder geht noch weiter.
„Das tut mir alles so leid, Marina, ich werde dir nie wieder so wehtun, das schwöre ich dir.“
Hat Papa nachträglich verstanden, dass er all die Zeit seine eigene Frau nicht erkannt hatte, dass er gerade der Person, die er so liebt, unfassbar große Schmerzen bereitet hatte. Ich weiß es nicht, mir ist auch nicht nach Nachhaken. Ich weiß nur, dass mein Rotkäppchen auf einmal wie kostbarer Champagner schmeckt.