Es war eigentlich nur eine Frage der Zeit. Schon seit vielen Jahren bin ich in Polen Dauergast, war schon viele Male in Danzig, Breslau, Warschau oder Krakau und habe auch schon meine Wanderschuhe in Zakopane geschnürt. Von meiner Lieblingsstadt Posen ganz zu schweigen, wo ich fast jeden Monat eine deftige Żurek (= saure Mehlsuppe) schlürfe. Nur diese eine Stadt – leider eine der bekanntesten Polens – hatte ich bisher immer ausgespart. Man fährt auch nicht wegen der Stadt an sich dorthin, denn Oświęcim hat touristisch nichts zu bieten. Und wenn man sich doch entscheidet, diese Stadt aufzusuchen, dann begleitet einen keinerlei Vorfreude. Man fährt mit reichlich Angst im Gepäck dorthin, und als Deutscher oft mit einem Extrarucksack an Schuldgefühlen. Jedes Jahr besuchen über 1,5 Millionen Menschen die Vernichtungslager von Auschwitz. Ich war 2023 das erste Mal dort. Und ich weiß genau, es wird nicht das letzte Mal gewesen sein.
Wenn man Auschwitz besuchen möchte, empfehle ich als Übernachtungsmöglichkeit das aufstrebende Kattowitz, Herz des polnischen Industriereviers. Am Vorabend saß ich mit meiner Freundin in einem überfüllten Restaurant. Bei köstlichen Pierogi haben wir uns beide gefragt, was wir wohl morgen in Auschwitz zu sehen bekommen. Würden wir uns am nächsten Abend, in einem weiteren überfüllten Restaurant in Kattowitz, irgendwie anders fühlen? Die Anspannung war groß, zu eindringlich und furchtbar waren die Dokumentionen und Filme, die wir über den Holocaust gesehen hatten. Als Kind habe ich auch Schindlers Liste geschaut, im Nachhinein viel zu früh für so eine harte Kost.
Mit Deutschlandfahne auf der Brust in die Hölle
Nächster Tag, schnell noch einen Flat White am Bahnhof und schon ging es mit einem Regio in nur 50 Minuten nach Auschwitz. Schon beim Einfahren überkam mich ein mulmiges Gefühl, als ich den Namen der Stadt auf den Bahnhofsschildern sah. Unwirklich jetzt an dem Ort zu sein, wo Millionen von Menschen im Namen einer wahnsinnigen Ideologie ermordet wurden. Unwirklich auch deswegen, weil der Bahnhof modern und völlig unscheinbar aussieht. Hier ist das also passiert? Wir liefen los Richtung Besucherzentrum. Mit jedem Meter stieg die Anspannung. Eingang. Überall Menschen, ein buntes Gewirr von überwiegend europäischen Sprachen. Und sofort begriff ich: Hier will ich eigentlich gar nicht Deutsch sprechen. Hier will ich besser kein Deutscher sein.
Auch wenn es schräg klingt, hier von Massentourismus zu sprechen, mir fällt kein besseres Wort ein. Und dieser wird vom perfekt organisierten Besucherzentrum mühelos aufgefangen. Ohne Schlange ging es nach der Ticketkontrolle schnell durch die Security. Überall Monitore und Hinweisschilder, jeder weiß genau, wann er wo zu sein hat. Und dann galt es, seine Aufkleber für die Tour abzuholen, die man bitte gut sichtbar auf der Brust zu tragen hat. Eine Deutschlandfahne.
Die bis ins kleinste Detail perfekt durchdachte Planung, das obligatorische Tragen eines „Abzeichens“ – ich wurde makaber und widerwillig an das erinnert, was ich irgendwann mal über Auschwitz gelernt hatte. Ist dieses Gefühl vielleicht sogar gewollt, um den Lerneffekt bei den Besuchern zu verstärken? Neben uns waren Italiener, hinter uns eine spanische Besuchergruppe. Und dann wir Deutschen. Mir war das Schwarz-Rot-Gold auf meiner Brust sehr unangenehm. Und sofort hätte ich schwören können, dass die anderen Nationen uns Deutsche besonders interessiert musterten. Jetzt bloß nicht lachen oder entspannt schauen! Endlich kam auch unser Tourguide, eine ältere polnische Frau, die im Gegensatz zu den anderssprachigen Tourguides die deutsche Fahne äußerst halbherzig nach oben hielt. War auch ihr unangenehm, dass sie – aus welchen Gründen auch immer – irgendwann mal Deutsch statt Spanisch gelernt hatte?
Der Zug bewegte sich. Als Erstes läuft man durch einen engen Gang ins Freie, von meterhohen Wänden auf beiden Seiten flankiert. Aus unsichtbaren Lautsprechern ertönten – von einer monotonen, fast schon gelangweilten Stimme vorgelesen – die Namen von ermordeten Häftligen. Emotionslos und nüchtern – eben so, wie die Nazis hier über eine Million Menschen umgebracht haben. Und mir wurde klar: Auschwitz soll über verschiedene Sinne in die Besucher eindringen. Die Wände kamen immer näher, dabei waren wir noch nicht mal am Eingangstor mit der berüchtigten Arbeit-macht-frei-Aufschrift. Ich fühlte mich bereits eingesperrt, wie sollte das nur weitergehen?

Eines der traurigsten Tor der Weltgeschichte: der Eingang zum Stammlager in Auschwitz. Foto: Markus Hofmann
Vor dem Eingangstor begann die Museumsführerin damit, erste historische Details über das sogenannte Stammlager (Auschwitz I) zu erzählen. Ich versuchte mich zu konzentrieren, aber statt auf ihre Worte zu hören, wurde ich von meinen eigenen Gedanken überrannt. Ich stellte mir vor, was an dem Ort, wo ich jetzt stand, vor rund 80 Jahren alles passiert sein muss. 80 Jahre, das sind Pillepalle-Peanuts in der Geschichte der Menschheit (und nein, Herr Gauland, die NS-Zeit ist eben nicht ein „Vogelschiss in 1000 Jahren deutscher Geschichte“).
Als Nächstes ging es zu Block 11, dem sogenannten Todesblock. Ein hübsches, zweigeschossiges Backsteingebäude, in dessen Kellergeschoss Menschen gefoltert und getötet wurden. Hier starb auch der polnische Verleger Maximilian Kolbe, besser bekannt als Pater Kolbe. Als ein Mithäftling wegen einer Nichtigkeit in den Todesblock geschickt werden sollte, schützte Kolbe den Mann, weil dieser im Gegensatz zum Pater eine Familie hatte. Und wie schützte er ihn? Indem er an seiner Stelle in den Hungerbunker ging und dort ermordet wurde. Eine ewige Kerze brennt in Kolbes Zelle. Der gerettete Mithäftling hat Auschwitz überlebt.
Nachdem wir an endlosen Bergen von abgeschnittenen Haaren, Gehhilfen und Kinderschuhen vorbeigescheucht wurden (Teil der perfekten Organisation vor Ort war leider auch, dass man sich die Beweisstücke des Nazi-Terrors nicht in Ruhe anschauen konnte), fiel mir auf, dass sich meine anfängliche Anspannung, meine Ergriffenheit und Fassungslosigkeit deutlich gelegt hatten. Wie kommt es, dass ich angesichts dieser furchtbaren Bilder nicht in Tränen ausbreche? Ist was falsch mit mir? Liegt es am gehetzten Tempo der Besichtigung? Oder schaltet meine Seele gerade zum Selbstschutz auf stumpf? Die beiden letzten Erklärungen gefielen mir deutlich besser.

Ein Berg von Schuhen, ausgestellt im Stammlager von Auschwitz. Foto: Markus Hofmann
Und dann standen wir auf einmal vor einer Handvoll opulenter, herrlich geflochtener Zöpfe. Und hier schepperte es in meinem Herzen. Als ich vorher vor dem riesigen Berg an Haaren gestanden hatte, der sich über viele Meter hinter einer Glasscheibe auftürmte, konnte ich kein bestimmtes Opfer sehen. Der endlose Haarhaufen steht perfekt für die von Nazis bewusst angestrebte Entmenschlichung und Entindividualisierung ihrer Opfer. Anders vor den Zöpfen. Hinter jedem einzelnen Zopf sah ich einen Menschen, konnte ich mir ein konkretes Opfer vorstellen. Für mich sollte es bis heute das eindringlichste Motiv bleiben.
Im Berlin-Bus zur Todesrampe von Birkenau
Nach einer kurzen Pause ging es mit Bussen zum eigentlichen Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Doch es waren nicht irgendwelche Busse. Es war genau diese Art von Gelenkbussen der polnischen Firma Solaris, die auch von den Berliner Verkehrsbetrieben eingesetzt werden. Auf einmal stand ich in gefühlt demselben Bus, mit dem ich die letzten Jahre durch Berlin-Neukölln auf dem Weg zur nächsten Kneipe gegurkt bin. Nur dass die Endstation hier Auschwitz-Birkenau hieß.

Der seltsam vertraute Bus mit der traurigen Endstation. Foto: Markus Hofmann
Das Torhaus. Die Entladerampe. Die Rampe. Wir haben in Berlin am Bahnhof Grunewald auch ein Mahnmal, das an Gleis 17 an die Tausenden Juden erinnert, die von diesem Gleis aus in die Konzentrationslager deportiert wurden. Aber wohl kein „Bahnsteig“ auf der Welt ist so tragisch tief in das kollektive menschliche Bewusstsein gekrochen wie die Todesrampe von Auschwitz-Birkenau. Und jetzt stand ich genau an diesem Ort. Hier, wo über das Schicksal von Hunderttausenden Menschen entschieden wurde. Im Rahmen dieser „Selektion“ – einerseits ein typischer Darwinismus-Begriff, andererseits ein Paradebeispiel für die mit blühendem Euphemismus übertünchte Widerwärtigkeit der Nazi-Ideologie – gab es nur zwei Optionen. Und beide einte die Eigenschaft, maximal menschenverachtend zu sein. Entweder wurde Mann, Frau und Kind direkt in den Tod geschickt oder es erwartete sie das perverse „Gewinnerlos“ dieser Selektion: Weiterleben. Weiterüberleben in der Hölle auf Erden, was in den meisten Fällen auf einen genauso sicheren Tod hinauslief. Aber einen Tod auf Raten, geprägt von Hunger und endlosem Leid. Um das eigentlich Unglaubliche mal in nüchternen, nackten Zahlen auszudrücken: In das Konzentrationslager Auschwitz (Stammlager, Birkenau, Monowitz und deren Nebenlager) wurden insgesamt ca. 1,3 Millionen Menschen deportiert. Rund 1,1 Millionen Menschen wurden ermordet – 865.000 von ihnen direkt nach der Ankunft.

Das Torhaus in Auschwitz-Birkenau. Foto: Markus Hofmann
Ich entfernte mich von der Gruppe und ließ die Szene auf mich einwirken. Bilder aus dem Hier und Jetzt verschwammen mit denen aus meinem Kopf. Ich versuchte mir vorzustellen, welche unbeschreiblichen Szenen sich hier abgespielt haben müssen. Aber es blieb für mich vor allen Dingen ein von wild fotografierenden Touristengruppen überfüllter Bahnsteig. Hier konnte man ergriffen sein, aber meine Ergriffenheit rührte mehr aus dem Wissen, was hier einst passierte, und weniger aus dem gerade Gesehenen.
Auch ich fotografierte die Rampe und das Torhaus. Irgendwie fühlte es sich zwar nicht richtig an, hier Fotos zu machen. Gleichzeitig wollte ich mich nicht auf mein Gedächtnis verlassen, ich verspürte den Drang, mit Erinnerungsfotos nach Hause zu fahren. Gegen das Vergessen.
In den beklemmenden Baracken von Auschwitz-Birkenau
Nach einer kurzen Pause ging es weiter in die Baracken. Und dort konnte ich dann einen Bruchteil von dem Leid „fühlen“ bzw. nachfühlend erahnen, das für Zigtausende Menschen tägliche tragische Realität war. Ich strich über das harte Holz der Etagen-Pritschen und stellte mir vor, wie hier – auf nicht einmal der Hälfte der Fläche meines eigenen Bettes – bis zu 6 Personen aussichtslos versuchten, das tagsüber Erlebte nicht in ihre Träume kriechen zu lassen. Ich war im Sommer in Auschwitz, ein Sommer, der von den Temperaturen her keiner war, und ich wollte mir nicht ausmalen, wie hier im Winter der eisige Wind Ostpolens durch die Holzhütten pfiff.
Unsere deutsche Gruppe verließ die Baracke, meine Freundin und ich blieben zurück. Wir waren hier noch nicht fertig. Wir wollten noch einen Augenblick länger das aufsaugen und erleben, was niemand erleben will, aber jeder in unserer Zeit einmal gesehen haben sollte. Auf einmal stand eine ältere Schwedin vor mir. Ihr Blick fiel auf meine Deutschlandfahne und kroch höher. Mitten in mein Gesicht. Lassen meine Augen irgendetwas von dem erkennen, was meine Vorfahren hier verbrochen haben? Waren das ihre oder doch meine Gedanken? Ich wich ihrem musternden Blick aus und verließ die Baracke.
Wir hatten den Anschluss zu unserer Gruppe verloren und schlichen ziellos zwischen den Baracken umher. Ich hatte mir das Gelände größer vorgestellt. Ich hatte von mir mehr Reaktion, Traurigkeit und Tränen erwartet. Wir stiegen wieder in den seltsam vertrauten Bus und machten uns auf den Rückweg nach Kattowitz. Noch im Bus begannen wir, das in Worte zu fassen, was wir die letzten Stunden gesehen und gehört hatten. Aber unsere Beobachtungen fühlten sich unfertig an, mein Eindruck war, dass irgendetwas in mir „nachreifen“ muss. Und wie ich damit Recht behalten sollte.
Habe ich mich mit einem „Auschwitz-Virus“ infiziert?
Abends saßen wir dann wieder in einem gemütlichen Restaurant, umringt von lachenden Menschen. Das polnische Bier wollte nicht schmecken wie sonst, der schlumpfblaue Wodka-Shot in der Kneipe fühlte sich falsch an. Der Kontrast – diese lebhafte, lebendige Stadt auf der einen Seite und, keine Bahnstunde entfernt, der Inbegriff von Mord und Unmenschlichkeit auf der anderen – war zu heftig, um dem Nachtleben irgendetwas Schönes abzugewinnen. Wir gingen früh nach Hause und noch im Hotelbett merkte ich, wie sich irgendetwas in mir veränderte. Ich konnte nicht einschlafen, meine Gedanken kreisten umher und ich hielt sie in einem kurzen Gedicht fest.
ein harmlos wirkendes tor
mit verspielter schrift
ein tor, der glaubt
dass es sowas nie wieder gibt
die perfektion an perfider perversion
der große lerneffekt?
scheint je verpufft!
vielleicht hat es ihn auch nie gegeben
die menschlichkeit hängt in der luft
und in meinem herzen nichts als beben
Für uns ging die Reise am nächsten Tag weiter, ins herrliche Krakau. Doch je länger die Reise ging, umso häufiger sprachen wir über Auschwitz, tauchten neue, nachträglich aufkeimende Eindrücke auf. Unsere Gehirne mussten anscheinend all die bewusst und unterbewusst wahrgenommenen Bilder erst einmal ordnen. Bis heute vergeht praktisch keine Woche, in der ich nicht an die geflochtenen Zöpfe und die beklemmende Enge der Birkenau-Baracken zurückdenken muss.
Auschwitz ist in mir nachgereift, ich habe mich mit dem, wie ich ihn nenne, „Auschwitz-Virus“ infiziert. Und das ist auch gut so. Denn wer einmal in Auschwitz war, ist ein für alle Mal für jede noch so subtile Form von Antisemitismus sensibilisiert (der – das ist die traurige Realität – aktuell wieder grassiert). Aber vor allem hat der Ort, der wie kein zweiter für die Auslöschung von jeglichem menschlichen Anstand steht, in mir eine große bewusste Dankbarkeit ausgelöst: für einen – weiterhin außergewöhnlichen (!) – Frieden in den meisten Ländern Europas, für Freiheit und Demokratie in Deutschland und einfach nur dafür, dass ich als Deutscher in Posen meine deftige Żurek schlürfen kann.