Ein Jahrzehnt ist vergangen, seitdem ich dich das letzte Mal gesehen habe. Und nochmal zwei, drei Jahre mehr, seitdem wir so richtig miteinander sprechen konnten, deiner Demenz sei „Dank“. Dieser Text ist für dich, weil ich dich im Alltag viel zu oft vergesse. Weil das Leben so unerhört rücksichtslos weitergerauscht ist. Es nimmt ja schon auf Lebende kaum Rücksicht, geschweige denn auf jene, die nicht mehr unter uns sind.
Mensch, wie die Zeit rennt, Papa. 10 Jahre. Ich weiß noch genau, wie nah du mir warst in den ersten Wochen nach deinem Tod. Wie ich nicht alleine durch die schwedische Pampa gewandert bin, sondern mit dir an meiner Seite. Den Urlaub hatte ich Wochen vorher gebucht, als noch nicht abzusehen war, wie schnell es am Ende gehen sollte. Du bist dann wenige Tage vor meinem Urlaub gestorben, ganz so, als ob du nicht meine Pläne durchkreuzen wolltest. Es wäre so typisch für dich gewesen. Marki zuerst, dann der Rest der Welt.
Ich habe dich gespürt, auch wenn das etwas esoterisch klingt. Ich glaube nicht wirklich an Geister, aber ich glaube daran, dass es nach dem Tod nicht einfach so aufhört, was immer es auch ist. Seele? Kann sein. Natürlich kann es auch sein, dass ich dich spüren wollte. Was ich natürlich wollte. Aber mir gefällt der Gedanke, dass du in den ersten Wochen noch nicht ganz so weit weg warst, wie es sich jetzt anfühlt. Dass du noch auf meine Mutter und mich achtgeben wolltest, um sicherzugehen, dass wir auch ohne dich irgendwie klarkommen. Bin ich klargekommen?
Wir sind gemeinsam durch einsame schwedische Wälder gestreift und haben uns die ganze Zeit unterhalten. Auch wenn es, zugegeben, doch eher einem Monolog glich. Ich habe die Schönheit der Landschaft vor meinen Augen kommentiert, mich laut an der absoluten Stille erfreut, als ob du neben mir liefest. Denn du warst da, irgendwie, wie auch immer. Ich habe deine Hand auf meiner Schulter gespürt. Vielleicht waren es aber auch die endlos vielen Mücken.
Dann kam das erste Weihnachtsfest und kurz darauf mein 30. Geburtstag. Das hat alles keinen Spaß gemacht. Auch weil du da schon nicht mehr da warst.
Und dann kam der erste Todestag, verdammt vor 9 Jahren und 10 Tagen. Ich bin mit meiner Mutter zum Friedhof gefahren, der nur ein paar hundert Meter von meiner Grundschule entfernt ist, dort, wo du mich fast jeden Morgen hingefahren hast und dich für mich mit Frau Silvester angelegt hast, die der Auffassung war, dass man doch bitte auch als Kind selbst zur Schule fahren sollte. Du hast ihr in deiner charmanten und diplomatischen Art („Kümmern Sie sich bitte um Ihren eigenen Scheiß“) erklärt, dass jede Familie das für sich selbst zu entscheiden habe. Brav haben wir einen Strauß niedergelegt, denn so macht man das doch, oder? Jeder hat sich ein paar Minuten Zeit genommen, alleine vor deinem Grabstein, um in Andacht ein paar Worte an dich zu richten. Ich weiß noch, wie ich auf Krampf versucht habe, dir dort nah zu sein. Aber wie es meine Mutter hinterher so schön auf den Punkt gebracht hat: „Für mich ist der Klaus überall, aber bestimmt nicht da auf dem Friedhof unter der Erde.“ Ich habe dich dort nicht gespürt und ich bin in den letzten 10 Jahren vielleicht noch 5 Mal zu deinem Grab zurückgekehrt.
Und wie sollte ich dich dort auch spüren, hattest du mir doch erst wenige Tage vor deinem Todestag gezeigt, wo du gerade wirklich bist. Diesen Traum werde ich nie vergessen, im Gegensatz zu 99,99% meiner anderen Träume. Ich stand auf einmal auf einem Feldweg, rechts und links gesäumt von einem quietschbunten Blumenmeer. Ich hatte noch nie ein so verrückt-fröhliches Farbfeuerwerk gesehen. Und du mittendrin, ein paar Hundert Meter vor mir. Wir sind wie in Zeitlupe aufeinander zugelaufen, bis du auf einmal vor mir standest. „Markus, mir geht es hier gut, ich habe keine Schmerzen mehr, bitte pass auf dich auf“. Weckerklingeln, graue Realität, ohne dich.

Ich muss sagen, dass dein erster Todestag eine echte Zäsur war. Bis dahin hatten wir alles einmal durch, deinen Geburtstag, meinen und den meiner Mutter, Weihnachten, Frühlingsanfang, ein weitere beschissene Saison von Hertha. Die Aussage, das erste Mal X ohne Papa war nunmehr Geschichte. Jetzt warst du irgendwie so richtig tot, bitte entschuldige die Aussage.
Und auch wenn ich dich seit Jahren nicht mehr an meiner Seite gespürt habe, oft viele Tage am Stück nicht einmal an dich gedacht habe (und als ich es dann tat, mich für die lange Erinnerungspause schlecht gefühlt habe), so habe ich doch im Laufe der Zeit einen Weg gefunden, dich in meinem Leben zu integrieren. Durch deine saloppen Sprüche, deine schlechten Witze. Es gibt wohl keinen meiner Freunde, der sie nicht hören musste. Ein paar sind eigentlich ziemlich, sagen wir mal, drollig. Allen voran „Übermorgen sind’s 2 Tage, wa?“ als Antwort, wenn jemand sagt, dass er mit einem Laster wie Rauchen aufgehört hat. Ein Frechdachs warst du immer, sogar während deiner Demenz ein paar (viel zu seltene) Male.
Mensch Papa, 10 Jahre ohne dich. Ich hätte mir so gewünscht, dass du live mitbekommst, was in den letzten 10 Jahren bei mir so alles passiert ist. Im Guten wie im Schlechten. Wie ich etwa bei Axel Springer angefangen habe und jeden Morgen im Paternoster an großen Postern bekannter BILD-Schlagzeilen vorbeigeschwebt bin. Du wärst stolz wie Bolle gewesen, ging doch für dich kein Sommerurlaub ohne entspanntes BILD-Lesen am Strand. Mensch hätte ich gerne mit dir all die Hertha-Pleiten verflucht und in deine glücklichen und dankbaren Augen geschaut, wenn ich bei euch zu Besuch war. Viel zu selten, wie mir jetzt mein Hirn einreden will. Aber so ist es wohl immer. Wenn es zu spät ist, will man es auf einmal erst recht und umso mehr.
Papa, ich schreibe endlich wieder Geschichten auf meinem Blog. Und das schon seit einiger Zeit! Genau, du ahnst es, übermorgen sind es 2 Tage. Ich hab dich lieb.