Warum ich für Papas Demenz (auch) dankbar bin

Keine Sorge, ich bin kein Unmensch. Ich habe aber erleben dürfen, wie eine furchtbare Erkrankung, die unweigerlich viele Türen schließt, trotzdem noch neue öffnen kann.

Ich bin mir darüber im Klaren, dass die Überschrift provokant wirken kann. Irritierend ist sie auf den ersten Blick in jedem Fall. Schließlich gehört es sich nicht, sich über die Erkrankung eines anderen Menschen zu freuen. Geschweige denn über die seines eigenen Vaters. Was hat er mir angetan, dass ich sowas auch nur denken kann?

Die Wahrheit ist: Es ist die Wahrheit. Und ich musste mich selber lange dazu durchringen, sie genau als solche anzuerkennen. Eben gerade, weil mir klar ist, wie fies und unempathisch diese Aussage klingt. Und warum bin ich jetzt dankbar?

Mein Vater und ich – it’s complicated

Weil ich durch die Demenz meines Vaters angefangen habe, ihn so zu sehen wie noch nie zuvor. Obwohl, nein, vielmehr müsste es heißen: wie seit Kindheitstagen nicht mehr. Als Kind habe ich meinen Vater angehimmelt. Schließlich war er zwar immer der älteste Papa von allen Papas, die ich kannte, aber dafür auch der aktivste. Mein Papa konnte noch weniger stillsitzen als ich. Was zur Folge hatte, dass wir stundenlang Tischtennis spielten. Oder Fußball. Oder uns mit Strandkellen in Italien duellierten. Bei über 30 Grad, wo all die „normal-alten“ Väter lieber auf der faulen Haut lagen und ihre Söhne neidisch in unsere Richtung schauten – angezogen von mir und Papa und vor allem irgendeinem herumfliegenden Ball.

Dann kam der Wechsel von Grund- zu Oberschule und die Probleme mit meinem Vater begannen. Also, eigentlich begannen die Probleme nur in meinem Kopf. Ich weiß nicht, wann ich damit angefangen habe, mich mit anderen Menschen zu vergleichen. Ich weiß aber, dass dieser „Skill“ – dem es gelingt, alles noch so Schöne in Sekundenschnelle zu zersetzen – ab der 7. Klasse bei mir schon die Reifeprüfung bestanden hätte. Auf einmal war es nicht mehr mein toller Papa, sondern mein Vater, der im Gegensatz zu den Vätern meiner neuen Klassenkameraden eben kein Arzt, Apotheker oder Anwalt war. Sondern NUR Bestatter. Wer zum Teufel hat einen Vater, dessen Job es ist, sich um das Verscharren von toten Menschen zu kümmern? Auf einmal nervte mich sein Berliner Dialekt. Auf einmal nervte mich, dass sich mein Vater fast nur für Sport interessierte. Irgendwann als 15-Jähriger platzte es dann mal aus mir heraus, und die erschrockenen und traurigen Augen meines Vaters verfolgen mich bis heute: „Kann man mit dir echt nur über Hertha reden? Das nervt so hart, Papa!“.

Zu diesem Zeitpunkt war der Prozess längst abgeschlossen, der zwischen meinen Vater und mich einen Keil treiben sollte. Meinem Hirn war es gelungen, meinen Vater nur auf sein Hirn zu reduzieren. Darauf, für welche Themen er sich interessierte (oder besser: nicht interessierte). Darauf, dass er kein Englisch sprach. Und dass er immer „desto, … desto“ sagte, statt sich einfach mal an die richtige Form „je, … desto“ (!!!) zu halten. Worauf ich ihn – „Papa, hast du Alzi??“ – nun wirklich zur Genüge hinwies. Ein klitzekleines Detail, ein völlig unerhebliches Beweisstück der Verteidigung, hatte ich in meiner mentalen Anklageschrift gegen Papa komplett unter den Tisch fallen lassen: sein riesengroßes Herz.

Ein unerwarteter Alliierter

Und genau hier kam ein unerwarteter Alliierter ins Spiel: Papas Demenz. Bitte versteht mich nicht falsch. Auch wenn es ziemlich albern ist, eine Hitparade der beschisstensten Krankheiten aufzustellen, würden wohl viele zustimmen, dass neben der vielseitigen Volksgeißel Krebs auch Demenzerkrankungen aufs Podium gehören.

Demenz beraubt einen Menschen dessen, was ihn von den anderen Lebewesen auf diesem Planeten unterscheidet: der Kapazität, logisch zu denken, seine Handlungen weit im Voraus zu planen und über seine Pläne mittels Sprache zu berichten. Demenz nimmt dir deine Stimme in der Gesellschaft. Demenz löscht deinen Orientierungssinn aus. Demenz fährt dir über den Mund. Demenz hat entmenschlichende Kräfte. Aber eben nur unter der Prämisse, dass man Menschsein mit Menschlichkeit gleichsetzt, dass man sich nur darauf versteift, was im Kopf alles kaputtgeht und nicht mehr so wie vorher funktioniert, dass man, wie ich bei meinem Vater als Jugendlicher, das Herz ausblendet.

Also ja, Demenz ist schrecklich, ich habe viel geweint, meine Mutter hat viel geweint, anfangs hat auch noch mein Vater geweint, solange er verstand, dass er langsam seinen Verstand verliert. Kurzum, Demenz macht nicht nur die Betroffenen selbst, sondern auch ihre Angehörigen kaputt. Aber unter all den Trümmern und Tränen habe ich eben auch zu dem schönsten Diamanten zurückgefunden: Papas Herzen.

Denn auch wenn Demenz bei vielen Menschen den Charakter verändern kann, ist sich mein Vater die meiste Zeit über treu geblieben. Natürlich hat mir auch geholfen, dass er mich bis zuletzt erkannt hat. Er wusste nicht immer, welche Funktion ich einnehme, also sein Sohn bin, aber er hat erkannt, dass ich zu ihm gehöre. Und er zu mir.

Seine unendliche Freude am Telefon zu hören, wenn ich ihm mitteilte, dass ich am nächsten Tag vorbeikomme: unbezahlbar. Freude. Pure, reine, kindliche Freude, Dankbarkeit für die kleinsten Gesten, für das Essen, das ihm meine Mutter kochte und das er schmatzend und vor Freude stöhnend in sich hineinschaufelte. Seine aus „gesunder“ Sicht völlig übertriebenen Danksagungen, mit Tränen in den Augen und bebender Stimme, als ich ihm zu Weihnachten eine Best-of-CD von René Kollo geschenkt habe: unvergesslich.

Klar, diese seltsame Metamorphose eines älteren Mannes zurück in ein Kind-Dasein war natürlich nicht immer nur rührend. Als ich mit meinem Papa im Supermarkt einkaufen war, musste ich mit ihm an der Kasse diskutieren, dass er nicht fünf Schokoladentafeln einstecken kann. Zumindest nicht, ohne sie vorher auch bezahlt zu haben. Dass er mir bitte, BITTE, beim nächsten Mal doch sagen soll, dass er auf die Toilette muss, damit wir beide verhindern können, dass er wieder den Teppich – nur einen Meter vom Klo entfernt – vollpullert. Dass er mir glauben kann, dass man sich mit Zahnpasta nicht die Hände wäscht. Diese Momente taten im selben Moment unfassbar weh, raubten mir Kraft, ließen mich verzweifeln, dass sich mein Papa wie ein Kleinkind verhielt. Jetzt, mit zehn Jahren Abstand, kann ich fast schon mit einem (traurigen) Lächeln auf diese Anekdoten zurückblicken.

Die unergründliche Schönheit der Blackbox Gehirn

Demenz hat mich auch gelehrt, dass das Gehirn eine absolute Blackbox ist. Und dass Musik in dieser eine ganz besondere Rolle einnehmen muss. Zu einem Zeitpunkt, als mein Vater schon komplett dement und kein normales Gespräch mehr möglich war, kam es zu einer Szene, die ich bis zu meinem letzten Atemzug nicht vergessen werde. Mein Papa und ich hörten im elterlichen Wohnzimmer René Kollo, er sang mit (!) und als die Textpassage kam,

Jetzt bin ich alt, jetzt bin ich alt,
aber mein Herz ist noch immer nicht kalt,
schläft wohl schon bald, schläft wohl schon bald,

drehte sich mein Vater auf einmal zu mir um, schaute mich ernst, fast schon belehrend an und kommentierte: „Schläft wohl schon bald, das heißt tot sein, Markus.“ An alle mitlesenden Neurowissenschafler:innen: Was genau ist hier passiert? Wie war das aus kognitiver Sicht möglich, dass ein Hirn, das nicht mehr imstande war, unsere Toilette von einer großen indischen Vase im Hauflur zu unterscheiden, das in vielen Fällen nicht mal meine Mutter als seine Ehefrau erkannte, auf einmal einen Text nicht nur wörtlich verstehen, sondern sogar zwischen den Zeilen lesen konnte?

Passend dazu, zum Thema Blackbox, machte meine Mutter zu einer noch viel späteren Phase eine genauso gruslig-schöne Erfahrung. Mein Vater hatte zu dem Zeitpunkt fast schon völlig seine Sprache verloren, die meiste Kommunikation geschah (und glückte) über Berührungen. Meine Mutter lag mit ihrem scheinbar nicht mehr erreichbaren Mann im Bett, als sich Papa auf einmal zu ihr umdrehte und – erneut mit ernster und sehr bestimmter Stimme – zu ihr sprach: „Marina, du sollst nach mir dein Leben genießen, bitte, tu alles, woran du Freude hast!“ Meine Mutter konnte nicht glauben, was sie da gerade gehört hat. Erneut meine Frage: Wie kann das möglich sein? War das seine Seele, sein Herz, das zu ihr sprach? Denn sein Kopf war nachweislich schon lange „kaputt“.

„Marina, du sollst nach mir dein Leben genießen, bitte, tu alles, woran du Freude hast!“ – Worte absoluter Liebe, einer Liebe, die sich dadurch definiert, einen geliebten Menschen los- und in die Freiheit zu entlassen. Mein Vater war nie ein Mann, der seiner Frau Liebesbriefe schrieb. Das sollte sich in seiner Demenz ändern. Ab und zu schob er ihr Briefe unter ihre Tür (meine Eltern schliefen wegen Papas Dauerschnarchen schon länger getrennt), die Ausdruck von Liebe und Sehnsucht waren. Und von ganz viel Schmerz, Verwirrung und einer ewigen und zum Scheitern verurteilten Suche nach sich selbst.

Augen und Herz auf fürs Wesentliche

Papas Demenz legte sein Herz in all seiner glänzenden und schimmernden Schönheit frei. Und auf einmal fiel mein geliebtes Bewertungskriterium Intellektualität weg. Es wäre auch unfair, einen dementen Menschen für begrenzte Intellektualität abzuwerten. Dass es natürlich IMMER falsch ist, einen Menschen abzuwerten, war mir an sich schon lange klar. Aber in der Praxis konnte ich es einfach nicht abschalten. Endlich konnte ich das sehen, was meine vergiftenden Gedanken in einem ewigen Kreislauf des Vergleichens eingetrübt hatten. Papas Denken musste erst eingetrübt sein, damit ich ihn wieder mit klaren Augen sehen konnte. Mein Papa musste erst Demenz bekommen, damit ich die Dummheit meiner Gedanken und Bewertungen erkennen konnte.

So wurde Papas Demenz zu einer Phase, in der ich „Buße“ tun konnte für meine schnippischen Kommentare, in der ich mich ihm emotional wieder ganz stark annähern konnte. Die Tragik bestand natürlich darin, dass ich mit ihm im Laufe der Zeit immer weniger kommunizieren konnte. Trotzdem habe ich ihm oft gesagt, wie sehr ich ihn schätze und liebe. In der Hoffnung, dass meine Worte und Gesten zumindest in seinem Herzen ankommen. Und dort sind sie am Ende auch am besten aufgehoben.

Um noch einmal zu der Überschrift meines Artikels zurückzukommen: Nur die Demenz meines Vaters hat meine eigene Transformation ermöglicht. Wäre mein Vater, ohne an Demenz zu erkranken, eines Tages einfach tot umgefallen, ich würde bis heute von (noch stärkeren) Schuldgefühlen heimgesucht werden. Natürlich hätte und habe ich ihm ein solches Schicksal niemals gewünscht. Aber für unsere Beziehung war es ein Segen. Und es ist tröstlich zu erkennen, dass eine solch furchtbare Erkrankung, die unweigerlich viele Türen schließt, trotzdem noch neue öffnen kann. Und dass jede Krankheit immer auch der Anfang von etwas Versöhnlichem sein kann.