Frau Brieger ist auf den ersten Blick eine stinknormale ältere Dame in einem Pflegeheim. Mit einem Unterschied: Sie lächelt. Und man kann sie auch noch mit Ende 80 zum „Diebstahl“ anstiften.
Frau Brieger ist alt, krank und mittellos. Doch auch wenn sie über keine Güter oder teuren Kleider verfügt, besitzt sie etwas, um das sie Millionen von Menschen auf der ganzen Welt beneiden: die Eigenschaft, ganz viel zu lächeln. Das tut sie mal offen mit einem Leuchten in den Augen, mal aber auch verhalten, verschämt, fast schon mit schlechtem Gewissen. Denn hier zu lächeln wirkt so fehl am Platz wie Wassertrinken in einer Moabiter Eckkneipe.
Frau Brieger und ein Leben mit Fans
Frau Brieger hat alles verloren, was man verlieren kann, ihren Vater als Jugendliche an den Zweiten Weltkrieg, ihre Mutter als junge Frau an Unterzuckerung, ihren Mann an Krebs, zwei ungeborene Kinder an das Schicksal. Nur ihr Lächeln hat sie sich auf wundersame Weise erhalten.
Wer sich ihre Geschichte anhört und sieht, wie gern sie lächelt, der fragt sich unweigerlich: Habe ich das Recht, mit meiner Situation unzufrieden zu sein, ohne mir dafür dumm und undankbar vorzukommen? Du ahnst es vielleicht: Hier grüßt uns eine rhetorische Frage.
Frau Brieger steht auf, wenn sie mich sieht. Verlässt den Tisch der stummen Gesellschaft aus mürrischen Ü80-Damen, humpelt Richtung Rollator, den ich ihr in hastiger Hilfsbereitschaft entgegenschiebe, damit die anderen im Raum endlich aufhören, mich so grimmig und misstrauisch anzustarren. Und schon rollt Frau Brieger sich und mich für eine Stunde in eine vergangene Welt. Eine Welt geprägt von Krieg, Vertreibung und Schicksalsschlägen. Eine Welt, die uns verstehen lassen sollte, wie gut wir es heute eigentlich haben.
„Frau Brieger, es ist so schön, Sie immer strahlen zu sehen. Sie sind die Sonne auf dieser Station“, lobte sie neulich ein Dauergast, der Ehemann einer anderen Heimbewohnerin, die seit einem Schlaganfall unerreichbar vor sich hindämmert. Den Herrn sehe ich praktisch jedes Mal, wenn ich Frau Brieger besuchen komme, jedes Mal macht er einen Abstecher in ihr Zimmer. Offiziell, um nur mal kurz hallo zu sagen, doch er kann mich nicht täuschen: Eigentlich will er sich nur von Frau Briegers Lächeln bezaubern lassen. Fanboys unter sich.

Wenn selbst ein leeres Glas noch halbvoll ist
Ihre Geschichten mögen sich bei meinen Besuchen wiederholen, dement ist Frau Brieger deswegen noch lange nicht. In ihren bald 90 Lebensjahren sind ihr Dinge widerfahren, die könnten eine ganze Gemeinschaftspraxis an Therapeuten auf Trab halten. Gewiss, die Geister der Vergangenheit haben Frau Brieger fest im Griff. Aber wie sehr sie auch an ihr rütteln, brechen werden sie diese tapfere Frau nicht mehr. Aber darüber reden, das Erlebte irgendwie verarbeiten, das muss sie dann doch. Mit ihrer Mitbewohnerin – Frau Brieger teilt sich geschätzte 12 Quadratmeter mit einer anderen Dame – kann sie das nicht. Die hat für Frau Brieger nur selten ein offenes Ohr.
Wenn Frau Brieger mal wieder vor ihrem geistigen Auge Alliertenbomben auf sich und die anderen Menschen im Flüchtlingszug aus Schlesien prasseln lässt, wirkt sie auf einmal ernst und aufgewühlt. Kälte, Hunger und qualvolles Sterben lauern plötzlich wieder hinter jeder Ecke. Doch selbst in diesen Momenten kann sie sich ab und an ein sanftes Lächeln nicht verkneifen. Immer ist auch etwas passiert, das Hoffnung spendete, das die dramatischen Wochen auf dem Treck irgendwie erträglich erschienen ließ: der Bauer, der sie in einer bitterkalten Nacht in seiner Scheune schlafen ließ; die Familie, die den Geflüchteten nach Tagen ohne Essen ein bisschen warme Suppe reichte; der Familien-Ochse, der inmitten von Bombenhagel stoisch stehen blieb, bis sich die Vertriebenen wieder aus dem Gebüsch raustrauen konnten. Und genau das scheint Frau Briegers Rettung zu sein: die Eigenschaft, selbst in den schwärzesten aller Momente die Augen für einen noch so mickrigen Lichtstrahl offen zu halten. Denn das, was ihre Lebensfreude am Leben hält, würden die meisten Menschen – ich wohl auch – erst gar nicht sehen.
Elch Freunde müsst ihr sein
Das kann auch ein ausrangierter Plüsch-Elch sein. Auf den sind wir eines Nachmittags bei einer Rollator-Runde im angrenzenden Wohnheim gestoßen. Dort, wo die „Bonzen“ unter den Alten leben. Nicht weil sie mehr Geld haben, sondern weil sie noch fit genug sind, um in Mini-Appartements zu wohnen. Allein. Heißt Privatsphäre. Heißt Selbstbestimmung. Heißt wahrer Luxus.
Wir haben schon so viele Tränen geweint,
jetzt können wir nur noch lächeln.
Dort, im Wohnheim, steht am Ende eines langen Ganges ein Regal mit ausgelesenen Büchern. Und mittendrauf thront ein Elch. Als Frau Brieger ihn das erste Mal erblickte, wollte sie ihn sofort streicheln. Und weil er eh nur vor sich hin verstaubte, schlug ich vor, ihn einfach mitzunehmen. „Der gehört mir doch gar nicht!“, wies mich eine entsetzte Frau Brieger zurecht. In bester Teufelchen-Manier entgegnete ich: „Seine Besitzerin ist doch bestimmt schon verstorben, sonst würde der hier draußen nicht rumstehen.“ Nichts zu machen. Ohne den Elch traten wir den Heimweg an, ein solches Risiko wollte Frau Brieger partout nicht eingehen. Die nächsten Wochen hatten wir nur ein logisches Ziel: den Elch. Beim vierten oder fünften Mal hatte ich sie dann endlich weichgekocht. Ich reichte ihr den Elch, sie ließ ihn in den Rollatorkorb plumpsen und zu dritt trotteten wir in ihr kleines Reich zurück, wo der Elch gleich einen Ehrenplatz bekam. Ganz außen auf der Kommode, „weil ich ihn so vom Bett aus immer sehen kann.“
Zwei Wochen später war ich wieder da – und der Elch schon wieder weg. Eine ältere Dame hatte nur einen Tag nach unserer Geheimaktion den „Diebstahl“ eines Plüsch-Elches bei der Heimleitung gemeldet, kurze Zeit später hat dann eine Schwester die heiße Ware bei Frau Brieger entdeckt. Neben einer Jesus-Statue – um Gottes Willen! „Das war aber kein Problem, ich habe einfach geflunkert und gesagt, dass ich nicht wüsste, wie der hier reingekommen ist“, kicherte Frau Brieger, von Traurigkeit natürlich keine Spur bei ihr. Der Elch blieb bis heute unser kleines Geheimnis und hat uns zu ziemlich besten Komplizen gemacht.
Alles eine Frage der Perspektive
Wie kann man im Pflegeheim auf den Tod warten und dabei fast die ganze Zeit zufrieden wirken? Das frage ich mich jedes Mal, wenn ich Frau Brieger besuche. Auf den Tod warten klingt hart? Mag sein. Bloß welche Perspektive hat ein Mensch, der fast nie Besuch bekommt, weil er all seine Verwandten längst überlebt hat; der jeden Tag für sechs Stunden am Sauerstoffgerät angeschlossen sein muss, weil ihm sonst buchstäblich die Luft wegbleiben würde; der seit Kurzem nicht mal mehr Schokolade essen darf, weil die nächste Verstopfung die letzte sein könnte? Das alles klingt für mich so unendlich frustrierend. Gleichzeitig bin ich mir fast sicher, dass Frau Brieger ihre eigene Situation gar nicht so pessimistisch wahrnimmt. Nur wie macht sie das?
Ein Satz von ihr hat sich tief in mein Hirn eingebrannt, es war ihre buddhahafte Antwort auf meine Frage, wieso sie eigentlich immer so heiter wirkt:
„Wir haben schon so viele Tränen geweint, jetzt können wir nur noch lächeln.“
Hilft es also, sein aktuelles Los mit der eigenen Vergangenheit zu vergleichen? Hat es dann die Person „drinnen“ leichter, die es „draußen“ schwerer hatte? Denkt sich Frau Brieger, egal wie scheiße heute der Tag wird, ich habe wenigstens ein Dach über dem Kopf, das nicht droht weggebombt zu werden? Und egal wie fad das Essen auch mal schmecken mag, wenigstens muss ich nicht hungern? Sollte das ihr Erfolgsrezept sein, ihre Nachbarinnen von Station 5 haben von dieser Strategie noch nichts gehört. Sie lächeln fast nie. Und ich kann es ihnen nicht verübeln.
Denn selbst jetzt, wo ich weiß, wie wenig man braucht, um glücklich zu wirken, schaffe ich es nicht, durch Bescheidenheit mein eigenes Leben zu bereichern. Verzicht liegt mir nicht. Ich bewundere Frau Brieger dafür, mit so wenig Besitz so viel Zufriedenheit auszustrahlen – und renne am nächsten Tag in die Mall, um mir die nächste Jeans zu „gönnen“.
Wenn sich Frau Brieger etwas gönnt, dann lässt sie sich dafür in den Keller ihres Heims fahren. Dort schneidet eine Friseurin den alten Menschen für ein paar Euro die Haare, während sich eine andere Dame um die Füße der Bewohner kümmert. Alle paar Wochen Waschen und Legen, alle paar Wochen ein bisschen menschliche Wärme und Berührung einkaufen. Für mich beklemmend, für sie purer Luxus. Alles eine Frage der Perspektive.
Wer hilft hier eigentlich wem?
Wir setzen uns an einen Holztisch in Frau Briegers Zimmer. Langsam spüre ich, wie meine Aufgeregtheit den Rückzug antritt. Ich kann nicht behaupten, dass ich mich jedes Mal auf die Besuche bei Frau Brieger freuen würde – vor allem deshalb, weil ich eigentlich nur am Wochenende Zeit habe. An meinem heiligen Wochenende! Manchmal gehe ich auch nur deswegen hin, weil ich weiß, dass es sonst niemand tun würde. Doch sobald ich dieser strahlenden Dame in den abgetragenen Omipullis gegenübersitze, bin einfach nur noch froh, meinen Hintern doch noch hochgekriegt zu haben. Wenn ich dann eine Stunde später aus dem Altersheim rausspaziere, bewegt sich meine Laune irgendwo zwischen erschöpfter Erleichterung und debilem Dauergrinsen. Ist das nur ein Anflug von Dankbarkeit, dass ich ein Haus voll kranker und einsamer Menschen verlassen darf? Oder hat mein Gewissen gerade die neu dazugewonnenen Karmapunkte hochgerechnet und dabei die Summe JACKPOT ausgespuckt? Keine Ahnung. Auf jeden Fall macht es etwas mit mir, Frau Brieger zu besuchen.
Eine sehr weise Frau wollte neulich von mir wissen, in welchen Momenten ich am „stolzesten“ auf mich bin, wann meine Mitmenschen meine beste Version erleben können? Ich musste nicht lange überlegen. Es sind die Nachmittage, an denen ich – im Hemd herausgeputzt – Frau Brieger gegenübersitze. Das mache ich selbst dann, wenn ich nach durchzechter Nacht mal in Begleitung eines fiesen Katers kommen muss. Ich garantiere: Alte Damen sind das beste Konterbier. Denn egal, wie schlapp ich mich fühle, die bloße Gegenwart von Frau Brieger, für die meine bloße Gegenwart so viel bedeutet, gibt mir ungeahnte Power für den restlichen Tag.
Frau Brieger ist der Ochse
Als ich sie im Sommer 2017 kennengelernt habe, traf ich – infolge einer fast tödlichen Lungenembolie – auf eine geschwächte alte Dame. Aber auch gebrechlich? Irgendwie passt das Wort nicht zu dieser starken Frau.
So lebt Frau Brieger bis heute, ihr Lächeln lebt bis heute – und in mir lebt und wächst der Wunsch, dass wir alle ein bisschen mehr wie Frau Brieger sein könnten. Oder wie ein Ochse. Denn auch wenn sie sich in den Plüsch-Elch verguckt hat, sie kann mir nichts vormachen: Frau Brieger ist in Wirklichkeit der Ochse, den nicht mal Bombenhagel aus der Bahn werfen konnte.
Ich habe Frau Brieger im Rahmen der Caritas-Sterbebegleitung kennenlernen dürfen. Sie hat mir ausdrücklich erlaubt, diese Geschichte zu veröffentlichen. Wenn auch etwas zähneknirschend ob des Diebstahldelikts.